Ein Austausch geht immer vor dem eigentlichen Besuch los. Bilder und neugierige E-Mails strecken ihren Kopf in fremde Postfächer, stampfen ungeduldig mit dem Fuß und warten auf Antworten. So beginnt auch der Austausch Kumamoto-Heidelberg.
Vor jedem Einschlafen, nach jedem Aufwachen ein quälender Countdown der Tage bis zur Ankunft: Wie lange noch? Und dann, als man es schon fast für unmöglich hält, kommt er an am Stadtjugendring: ein Bus mit 21 jungen Japanern. „Am Anfang waren wir noch alle sehr schüchtern und vorsichtig“, erinnert sich die 14-jährige Mina an die erste Begegnung mit ihrer Gastschwester. Die anfängliche Zaghaftigkeit verpufft schon einen Tag später in großer Höhe. Auf schmalen Holzbalken weit über dem Boden, in meterhohen Tunnelröhren und rollende Fässern, an Riesen-Seilrutschen hängend, bei nervenaufreibenden Kletterwandtraversen, in Piratennestern, bei dem wagemutigen Flohsprung – im Kletterwald Viernheim bleibt kein Platz und vor allem kein Nerv für Zurückhaltung. Hier lernt man sich kennen. Viele Meter über dem sicheren Waldboden flechten sich erste Bande der Freundschaft. Man fängt an, einfach drauf los zu reden
Die 14-jährige Florentina hat dazu ein neues Deutsch-Japanisches Wörterbuch. Das holt sie immer heraus, wenn sie ihrer Gastschwester Begriffe zeigen will, die mit Englischkenntnissen und wilden Gesten nicht vermittelbar scheinen. Annas Vater hat Japanisch studiert und hilft nur zu gern aus, wenn es zwischen ihr und Austauschschülerin Mina kommunikativ mal hakt. Bevor alle Stricke reißen, springen zwei junge Dolmetscherinnen ein, die die Gruppe begleiten. „Es hat nicht lang gedauert, bis sich Japaner und Deutsche gemischt haben. Wir verstehen uns echt super innerhalb der Gruppe. Dafür gibt es einen Begriff, den uns die Japaner beigebracht haben: dawai kawaii. Das bedeutet, dass sich alle sehr lieb und fürsorglich miteinander umgehen“, erklärt die 15-jährige Emily.Rosina Pesek vom Stadtjugendring, die den Austausch mitorganisiert, freut sich über die offene Haltung der Gruppe: „Unsere Gäste sind sehr aufgeschlossen gegenüber uns und unserer Kultur. Es macht Spaß, das zu sehen und mit der Gruppe unterwegs zu sein!“ Unterwegs ist die Gruppe viel: In Mannheim im Technoseum, in Nürnberg im Dokumentationszentrum-Reichsparteigelände oder auch im Holidaypark, wo die Expedition GeForce, in den Bauch fährt. Viele der japanischen Austauschstudenten waren noch nicht in einem Erlebnispark dieser Form. Abschrecken von der einer der längsten Achterbahnen Europa, lassen sie sich trotzdem nicht. Sie können in Dauerschleife fahren, denn sonst wagen sich nicht viele Besucher in solche Höhen. Es muss nicht immer die Angst sein, die zusammenschweißt: Bei der japanischen Ayaka und ihrer deutschen Gastschwester Florentina war es eine gemeinsame Leidenschaft für Animes. Die Animationsfilme werden in Japan produziert und sind dort Kulturgut. Aber auch bis nach Deutschland ist die Begeisterungs-Welle geschwappt, zumindest in kleine Kreise, auch bis zu Florentina. „Meine Gastschwester Ayaka hat mir Animes von zuhause mitgebracht. Wir haben schon welche zusammen angeschaut!“, erzählt Florentina, die endlich eine Seelenverwandte für ihr Hobby gefunden hat.
Manche Dinge, die ihr hier begegnen, bringen Mina aus Japan zum Staunen, manche machen sie auch neidisch. Die Unterrichtszeiten zumBeispiel: „Zuhause geht die Schule immer bis fünf, hier haben die Schüler schon nach ein Uhr aus.“ Dass man ab 16 Alkohol trinken kann, findet sie auch ungewöhnlich, in Japan ist das unter 20 Jahren Tabu. Daran, Brötchen aufzuschneiden und mit Marmelade zu bestreichen, hat sie sich inzwischen aber gewöhnt. Besonders mag sie Weißbrot mit Schinken – eine schöne Abwechslung zu dem japanischen Reis, den sie daheim immer zum Frühstück isst. Eine Welt von verkehrten Ampelmännchen, großen Häusern, Kirchen und Altbauten, von ungekannten Geschmäckern und Gerüchen und einer neuen Kultur hat sich ihr geöffnet. Im Spiegel einer fremden Kultur lernt man oft erst seine eigene kennen.
Langschläfer mögen sich noch unter der Decke wälzen, als zwei Drachenboote mit der Morgensonne über den ruhigen Neckar gleiten. Darin die Kumamoto-Heidelberg Gruppe. Beim pompösen Abschied geht es ein zweites und letztes Mal für die Gruppe auf den Neckar. Diesmal auf einem Schiff, mit Spätzle und Soße und einem DJ. Von Heidelberg nach Neckarsteinach geht die vorerst letzte gemeinsame Reise. Mit dabei Eltern und Geschwister, die sich viel zu schnell an das Familienmitglied auf Zeit gewöhnt haben. Aber auch die Japaner wollen nicht an Abschied denken. Für Juichuro, 16, aus Japan besteht keinen Zweifel: Auch wenn die GeForce und der Kletterwald für Adrenalinschübe gesorgt hat – „Am Schönsten für mich war die gemeinsame Zeit mit meiner Austauschpartnerin Emily, ihren zwei kleinen Geschwistern und den Eltern.“ Er hat den Trubel am Frühstückstisch genossen, die Witze, das Grillen und die gemeinsamen Ausflüge.
Der DJ an Bord spielt die ersten Lieder, dann der Überraschungs-Auftritt der Japaner: eine klammheimlich einstudierte Choreografie, die sie auf dem Deck des Boots vorführen. Die Tanzlust ist geweckt, die Partyphase eingeläutet: Eine Polonaiseschlange auf dem Deck, Margarita-Tänze in der Masse, Chartklänge vom Schiffsinnern und dem enthusiastischen DJ, niemand hält sich hier zurück: Das Schiff ist jetzt ein Party-Schiff für Eltern, Gruppenleiter und besonders für die Jugendliche. Als es sich der Anlaufstelle nähert, fließen erste Tränen und stecken sich gegenseitig an. Man liegt sich in den Armen. Es war eine schöne Zeit. “Wenn ich erwachsen bin, will ich alle wieder treffen”, wünscht sich Ayaka. Mit etwas Glück klappt es auch schon früher.